Von Langerweile und Stress: Vierbeiner zwischen Bore- und Burnout-Syndrom

Langeweile Stress Hund

In vielen Internet-Foren berichten Hundehalter, täglich 4–6 Stunden mit ihren Hunden spazieren zu gehen – das entspricht ganz nebenbei bemerkt mindestens einem Halbmarathon für den Zweibeiner und das täglich!

Getreu dem Motto: Darf es auch etwas mehr sein, runden mehrere Sportkurse pro Woche den Beschäftigungsdrang des Herrchens oder Frauchens ab: Agility, Maintrailing, Obedience und vielleicht noch ein Frisbee-Kurs? Und am Wochenende geht es noch zu einer Ausstellung.

Auf der anderen Seite gibt es auch Tierbesitzer, die der Meinung sind, dass ein Vierbeiner ruhig 10 Stunden am Tag allein in einer 40-qm-Wohnung die Raufasertapete anstarren und mit zwei 15-minütigen Runden um den Block (natürlich an der Leine und auf einem Betonfußboden) zufrieden sein sollte. Zur Not tut es auch ein Katzenklo.

In einer Zeit, in der Hunde nicht mehr einfach nur Hunde sein dürfen, scheinen sie entweder die unerreichten sportlichen Ambitionen ihrer Besitzer erfüllen zu müssen, oder aber als eine Art lebendiges Möbelstück oder Statussymbol zu fungieren, dem keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Es gibt sogar spezielle Fertigfuttersorten für Hunde, die viel Zeit im Haus verbringen. Nicht nur Menschen, sondern auch ihre vierbeinigen Begleiter scheinen sich heute mehr denn je zwischen Bore- und Burnout-Syndrom zu bewegen, sich also entweder zu Tode zu langweilen oder aber völlig überfordert sind. Gibt es ihn noch, den goldenen Mittelweg? Und was würde ein Hund machen, wenn er die Wahl hätte?

In diesem Zusammenhang ist interessant, was Günther Bloch in seinen Freilandbeobachtungen an verwilderten Haushunden, die ohne Einfluss des Menschen (abgesehen von regelmäßiger Futterbereitstellung) frei leben, beobachtete: Im Sommer sind die Hunde 3,3, im Winter 4,7 Stunden aktiv. Aktivität ist dabei als Interagieren, Jagen, Laufen, Beobachten oder Fressen zu verstehen. Während dieser Zeit beschäftigen sich die Hunde zu über 30 % mit Gefahrenabwehr oder -erkennung (sie gucken und bellen also) und zu etwa 40 % mit Exploration des Reviers, Nahrungssuche oder -aufnahme. Den Rest der Zeit verbringen sie mit sozialer Interaktion untereinander. Junghunde sind im Schnitt 1,6 Stunden länger aktiv als erwachsene Tiere. Den Rest Tages (19–20 Stunden am Tag) verbringen die Tiere mit Schlafen und Rumgammeln. Ja, Hunde lieben es, zu schlafen![1]

Diese Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass Hunde – wenn sie die Wahl haben – nicht unbedingt 4–6 Stunden mit Spaziergängen und anschließenden Sportkursen verbringen würden, aber natürlich auch darauf, dass eine 15-Minuten-Runde um den Block nach 10-stündiger Isolationshaft vollkommen indiskutabel ist. Und auch, wenn Hunde den Großteil des Tages damit verbringen, zu dösen oder zu schlafen – und die Möglichkeit sollte er auch haben-, ist das noch lange kein Freifahrtschein dafür, einen Hund während dieser Zeit allein in eine Wohnung zu sperren, denn Hunde sind nun einmal sehr soziale Tiere und auch wenn sie inaktiv sind, sind sie dies gern gemeinsam. Kontaktliegen ist eben schön.

Was ist artgerechte Bewegung?

Artgerechte Bewegung lässt dem Hund individuellen Raum für natürliche Bedürfnisse wie Exploration des Reviers, Laufen, Spielen und Markieren. Ein Leinenspaziergang um den Block ist keine artgerechte Bewegung und ein Aufenthalt im Garten – egal wie groß dieser ist – ebenfalls nicht. Auch Agility & Co. sind kein Auslauf wie ein Hund ihn selbstständig gestalten würde: Das ist Arbeit, auch wenn es Spaß machen kann. Ebenso kann ständiges Ball spielen falsch verstandene Beschäftigung sein – viele Hunde, die bis zur Erschöpfung apportieren und stundenlang wie besessen ihr Spielzeug fixieren, tun das, weil sie schlichtweg süchtig sind und nicht, weil es echtes Spiel ist. Es sind Balljunkies, die von Herrchen oder Frauchen in ihrer Sucht gefördert werden. Das ist ein Grund zur Sorge und kein Grund zur Freude!

Hunde benötigen die Möglichkeit, ihre Umwelt ausgiebig mit der Nasezu erkunden, ohne permanent mit Kommandos bombardiert oder von einer besonders gut riechenden Stelle sofort weggezerrt zu werden. Jeder Hund sollte regelmäßig (das heißt ja nicht zwingend täglich) so schnell er kann und will, rennen dürfen. Das ist mit dem lahmen Zweibeiner am anderen Ende der Leine natürlich nicht möglich. Natürlich ist persé nichts gegen Leinenspaziergänge einzuwenden und auch nichts gegen Hundesport, solange der Vierbeiner Spaß daran hat. Es ist wohl wie immer eine Frage des Maßes. Da wären wir wieder beim Mittelweg.

Das Bedürfnis nach Beschäftigung scheint sehr individuell zu sein. Es gibt Vierbeiner, die sehr viel Action und geistige Auslastung benötigen, um ausgeglichen zu sein, andere sind eher Couchpotatoes und sind auch ohne spezielles Sport- und Beschäftigungsprogramm zufrieden, wenn sie genug ungebundenen Auslauf haben. Auch das Alter des Hundes spielt natürlich eine Rolle.

Gern wird auch darauf geschlossen, dass kleine Hunde weniger Auslauf benötigen, aber der Bewegungsdrang ist unabhängig von der Größe des Hundes. Auch Schoßhündchen wollen sich artgerecht bewegen und nur weil ein Hund groß ist, heißt das nicht unbedingt, dass er unbedingt ein spezielles Beschäftigungsangebot benötigt. Selbstverständlich gibt es rassebezogene Tendenzen, die übrigens bei der Anschaffung eines Hundes unbedingt berücksichtigt werden müssen. Ein Hund sollte bezüglich seiner inneren Werte zum Hundehalter passen und nicht aufgrund von Äußerlichkeiten oder Trends.

Also Augen auf bei der Rassewahl, denn man muss bedenken: eine englische Bulldogge wird in der Regel nicht so viel Beschäftigung benötigen wie ein Australian Shepherd aus einer Arbeitslinie. Dennoch ist es auch bei letzterem wohl eher nicht nötig, ihn von einem Sportevent zum nächsten zu jagen. DAuslastung Hunderassena ist er wieder, der Mittelweg.

Ein weiterer Stressfaktor für Hunde kann übrigens auch die heutige Art und Weise der Haltung sein – Stadtgebiet, Lärm, Hundeausstellungen, massenhaft Territorialfeinde in Form von fremden Artgenossen und der Drang vieler Halter, die Tiere zwanghaft mit jenen „spielen“ zu lassen. Das sollte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden: Echtes Spiel mit Artgenossen macht Spaß, ist wichtig und wenn der Hund gern spielt, sollte er natürlich die Möglichkeit dazu haben. Aber was man auf Hundewiesen unter fremden Hunden beobachten kann, ist oft kein Spiel, sondern Mobbing, was den Hund zwar schön „auspowert“, ihn aber enorm unter Stress setzt. Ein solcher Mobbing-Nachmittag, bei der der eigene Hund entweder das Opfer oder aber der Tyrann ist, mag zwar anstrengend für alle Beteiligten sein, stellt aber ebenfalls keine artgerechte und sinnvolle Beschäftigung dar. Dann doch lieber ein paar gute Hundefreunde suchen, mit denen dann regelmäßig wirklich gespielt werden kann.

Um sich dem Mittelweg anzunähern, könnte man auch betrachten, was Hunde gemacht haben, bevor sie zu Ersatzkindern oder sozialen Partnern wurden und in der hektischen Umgebung der heutigen Welt lebten. Entweder hatten diese Hunde eine echte Aufgabe (z. B. Schafe hüten), lebten „nebenbei“ mit am Hof oder waren tatsächlich Gesellschaftshunde feiner Herrschaften. Vermutlich waren sie insgesamt eher draußen, wo es auf Hundeart viel zu erkunden gab oder aber in der Nähe ihrer Menschen und nicht allein in einer Wohnung. Und auch die Arbeitshunde standen dabei nicht permanent unter Strom – im Winter, wenn die Schafe im Stall sind, gab es für einen Hütehund nicht viel zu tun. Eine Zeit der Ruhe, aber nicht der Isolation und Langeweile, denn am Hof gab es andere Hunde oder Menschen.

Woran erkennt man, dass der Hund genug Bewegung hat?

Ich maße mir nicht an, darauf die richtige Antwort zu haben. Aber jeder Hundehalter kennt seinen Hund am besten und muss ihn einfach objektiv beobachten (lassen). Entsprechende Kenntnisse über die arteigene bzw. natürliche Lebensführung eines Hundes unter Berücksichtigung der Individualität sind hierbei natürlich sehr hilfreich.

Über- oder Unterforderung drücken sich recht unterschiedlich aus. Unterforderte Hunde sind oft unausgeglichen. Sie neigen mitunter zu Zerstörungswut, lecken sich die Pfoten wund (nicht immer sind gesundheitliche Probleme wie z.B. Allergien o. ä. die Ursache) oder bücksen aus, um erst nach Stunden zurückzukehren. Überforderte Hunde zeigen teilweise Meideverhalten oder Stress (z. B. Hecheln), wenn sie bemerken, dass es schon wieder zum Training gehen soll oder sind einfach schlapp und nicht motivierbar. Wenn der Hund nach jedem Tag in einen nahezu komatösen Schlaf fällt, dann war es vielleicht einfach zu viel. Es gibt aber auch Hunde, die bei Überforderung völlig auf- bzw. überdrehen und mutieren zu einem Nervenbündel mit unbeherrschbarem Bewegungsdrang.

Ein ausgelasteter Hund macht einfach einen zufriedenen und entspannten Eindruck.

Er hat auch kein Problem damit, etwa im Krankheitsfall mal ein paar Tage lang nur eine Mini-Runde zu gehen. Problematisch ist das gerade bei Hunden, deren natürlichen Bewegungsdrang man noch durch Training verstärkt hat.

Schneller, weiter, höher – hat eben auch Nachteile.

Man kann durch übertriebene Aktivitäten den Hund tatsächlich in den Burnout treiben. Und durch mangelnde Beschäftigung und ganztätige Isolation eben in eine Depression. Man tut gut daran, beides zu vermeiden und lieber auf dem zu Mittelweg bleiben… für psychisch gesunde Hunde!

Krankheits- oder fütterungsbedingte Probleme

Es ist übrigens auch möglich, dass ein Tier trotz hundgerechter Beschäftigung Verhaltensauffälligkeiten zeigt. In dem Fall sollte man auch immer im Hinterkopf behalten, dass bestimmte Erkrankungen (z. B. eine Schilddrüsenunterfunktion) Einfluss auf das Verhalten haben können. Dann empfiehlt sich, einen Tierarzt mit einer entsprechenden Spezialisierung aufzusuchen.

Sogar die Fütterung (Tryptophanmangel aufgrund minderwertiger Proteinquellen z. B. bei Fertigfuttergabe, veganer Ernährung oder einseitiger Fütterung bindegewebsreicher Schlachtabfälle oder allgemeiner Energiemangel) kann ursächlich dafür sein, dass ein Hund sich trotz bester Haltungsbedingungen und augenscheinlich gutem Gesundheitszustand unwohl fühlt. Das kann sich dann in ängstlichem bis hin zu aggressivem oder einfach unmotiviertem Verhalten äußern. In dem Fall sollte natürlich über eine Futterumstellung nachgedacht werden werden.

 

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[1] Bloch, G. (2007): Die Pizza-Hunde

3 Meinungen zu “Von Langerweile und Stress: Vierbeiner zwischen Bore- und Burnout-Syndrom

  1. Paulina sagt:

    Bewegung ist für Hunde echt so wichtig, damit sie ausgelastet sind – und es ist auch super, dass mal zwischen Burnout und Bore-out bei Hunden unterschieden wird. Hab die Erfahrung gemacht, dass das häufig nicht der Fall ist! Danke für den informativen Artikel!

  2. Kimmo sagt:

    Ich stimme fast komplett zu.
    Aber eine Zeitangabe bedeutet ja nicht zwangsläufig, das es viele KM sind.
    Ich laufe jeden Morgen mit meinem DSH ca. 2,5h und etwa 6km, dann nochmal 2 kurzere Runden durch den Park, er darf so viel schnüffeln wie er will.
    So komme ich auch auf gute 4h und habe nicht das Gefühl das dass zu viel ist.
    Ist es zuviel?
    Schlafen tut er schon ziemlich fest und viel aber das soll er ja dann auch.

  3. Tamara Mörschel sagt:

    Dieser Artikel spricht mir aus der Seele! Ich habe zwei Boxer die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während die Hündin gerne täglich Aktivitäten hat (Waldspaziergänge, Felder erkunden, den Hundeplatz zum Mensch-Hund-Spielen), ist genau diese Menge für mein Rüden zu viel. Je nachdem wieviel Reize ein Gassigang mit sich bringt, ich meine die Runden um den Block, entscheidet sich was wir an diesem Tag unternehmen. Denn bei mehreren Stresssituationen, können wir den Ausflug lassen. Ansonsten folgen Kratzanfälle, Übelkeit, Durchfall und schlechte Entscheidungen seinerseits bei neuen Reizsituationen. Also bekommt er an diesen Tagen, sehr viel Ruhe, oft auch mit Anleitung um verarbeiten zu können. Es ist schön das dieses Thema immer präsenter wird, denn viele Hundehalter überfordern ihren Hund wirklich und wundern sich wenn er nicht “funktioniert”.

    Danke für Deinen Beitrag

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